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100 GUTE GRÜNDE, AUS DEM LEBEN ZU SCHEIDEN

15. Oktober 2009

Folge 1: Heinrich von Kleist

Wer das Glück hat, eine auch nur halbwegs interessante Jugend durchlebt zu haben – oder besser noch: gerade zu durchleben – weiß, wie viel Tröstliches in der Erkenntnis liegt, sich jederzeit umbringen zu können. Beim Schulfest von der Dorfschönsten eine hochnotpeinliche Abfuhr kassiert? Im Supermarkt beim Snickers-Klauen erwischt worden? Macht nichts – legt man sich eben auf die Eisenbahnschienen und wartet auf den erlösenden Tod. Glücklicherweise gewähren die Bahnfahrpläne meist genügend Zeit, um noch mal in Ruhe abzuwägen, ob die drohende soziale Ächtung die Misslichkeit des schmerzhaften Halbiertwerdens auch wirklich überwiegt – und in 99 von 100 Fällen ist jede noch so feste Selbstmordabsicht nach wenigen Minuten als theatralische Pose entlarvt. Aber auch dann hat das Ganze etwas Heilsames: Man hat seine Alltagsprobleme mal kurz mit dem großen Ganzen ins Verhältnis gesetzt – und sie haben sich als unwürdig und mithin erträglich erwiesen.

Leider gerät diese durchaus sinnvolle Art der Stressbewältigung im Laufe des Erwachsenwerdens irgendwann in Vergessenheit. Man hat gelernt, Schwierigkeiten mit rationalen Lösungsstrategien zu begegnen und Eisenbahnschienen zu meiden. Das klingt nach einer gesunden Entwicklung, ist aber das genaue Gegenteil: Wer nämlich den Suizid derart tabuisiert, dass er ihn nicht einmal mehr zu denken wagt, multipliziert seine irdischen Sorgen automatisch mit dem Faktor Ausweglosigkeit. Thomas Bernhardt empfahl deshalb, bei jeder Entscheidung stets die Möglichkeit des Selbstmordes mitzudenken. Denn erst die Aussicht, sein Leben im Falle des Scheiterns kurzerhand beenden zu können, verleiht einem den Mut und die Freiheit, Großes zu tun. Nebenbei – und jetzt wird’s spitzfindig – schützt die regelmäßige Auseinandersetzung mit der Selbsttötungs-Option aber auch davor, sich allzu leichtfertig ins Messer oder aus dem Fenster zu stürzen. Nur wer öfter mal in Gedanken Hand an sich gelegt hat, ist nämlich im Ernstfall in der Lage, in Ruhe zu analysieren, ob das jeweilige Übel diese letzte Konsequenz auch wirklich rechtfertigt.

Lange Einleitung, kurzer Sinn: Ehe es sich einbürgert, dass sich Leute aus den völlig falschen Gründen die Kugel geben (Telecom-Mitarbeiter, verarmte Milliardäre) präsentiert die wortpong-Redaktion ab heute als Orientierungshilfe in loser Folge: Menschen, die mit Stil und aus guten Gründen hingeschmissen haben. Suizid-Rolemodels sozusagen. Bevor es losgeht, bitte die Erkennungsmelodie* einlegen:

Damit also zum toten Heinrich von Kleist – so etwas wie dem Schwergewichts-Weltmeister des gekonnten Abgangs. Niemand vor ihm und kaum einer seiner Nachahmer hat den Freitod so genüsslich ausgekostet und so bewusst als letzte Botschaft an die Nachwelt zelebriert wie er. Im Einzelnen:

Vorgeschichte:

Der Autor von Werken wie „Der zerbrochene Krug“ und „Die Marquise von O.“ war laut Zeitzeugen ein selten unangepasster Typ (siehe auch: Punk) und wenn überhaupt je eine reale Person an echten hamletschen Daseinszweifeln litt, dann er. Die letzten zehn Jahre seines ohnehin nur kurzen Lebens brachte er überwiegend damit zu, seinen Selbstmord zu planen. Und diese Gewissenhaftigkeit sollte sich auszahlen…

Die Tat

Am 21. November 1811 machte sich der damals 34jährige Dichter zusammen mit seiner Seelenverwandten, der verheirateten und krebskranken Henriette Vogel auf den Weg an den kleinen Wannsee bei Berlin und nach einem wunderbaren Tag bei Kaffee, Rum und guter Konversation erschoss er (mit deren Einverständnis) zunächst seine Freundin und dann sich selbst. Um großes Rätselraten zu vermeiden, hatten die beiden zuvor eine Reihe von Briefen mit einigermaßen lässigem Grundton verfasst, in denen sie den Hinterbliebenen in bester Laune ein paar warme Worte auf den weiteren Lebensweg mitgaben. Bestes Beispiel: Die Bitte Henriettes an einen befreundeten „Kriegsrat“, ihren sensiblen Ehemann möglichst mit blutigen Einzelheiten zu verschonen:

„Mein sehr werter Freund! Ihrer Freundschaft, die Sie für mich bis dahin immer so treu bewiesen, ist es vorbehalten, eine wunderbare Probe zu bestehen, denn wir beide, nämlich der bekannte Kleist und ich befinden uns hier bei Stimmings, auf dem Wege nach Potsdam, in einem sehr unbeholfenen Zustande, indem wir erschossen da liegen, und nun der Güte eines wohlwollenden Freundes entgegen sehen, um unsre gebrechliche Hülle, der sicheren Burg der Erde zu übergeben. Suchen Sie liebster Peguilhen diesen Abend hier einzutreffen und alles so zu veranstalten, dass mein guter Vogel möglichst wenig dadurch erschreckt wird.“

Seltsamerweise wurde diese nette Geste damals von vielen als Zynismus verstanden.

Grund des Ganzen

Eine Sinnkrise epischen Ausmaßes. Kleist muss sein Leben als dermaßen fundamental sinnlos empfunden haben, dass es ihn quasi von innen zerfressen hat. Das kennt jeder – aber kaum einer konnte es in so treffende und vor allem noch heute gültige Worte fassen, wie der zu Lebzeiten sträflich unterschätzte Dichter:

„Der Gedanke, dass wir hienieden von der Wahrheit nichts, gar nichts, wissen, dass das, was wir hier Wahrheit nennen, nach dem Tode ganz anders heisst, und dass folglich das Bestreben, sich ein Eigentum zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ganz vergeblich und fruchtlos ist, dieser Gedanke hat mich in dem Heiligtum meiner Seele erschüttert – mein einziges und höchstes Ziel ist gesunken, ich habe keines mehr.“

Unsterblichkeitsfaktor

Gar nicht zu ermessen. Es gibt Literaturwissenschaftler, die behaupten, dass Kleist ohne seinen Selbstmord heute wohl vergessen wäre. Da er diesen und seine Beweggründe aber so beflissen dokumentierte, entstand ein Mythos, der bis heute anhält.

Fazit

Besser geht’s nicht! Wenn schon Selbstmord, dann so!

*Es gibt ja im Internet die verrücktesten Dinge. Im Zuge der Recherche für diesen Beitrag bin ich zum Beispiel darauf gestoßen, dass auf youtube derzeit ein Wettbewerb zu laufen scheint, wer Johnny Mandels „Suicide is painless“ (genau: Das war die Mash-Titelmelodie) mit dem krudesten Manga-Video unterlegt. Mein vorläufiger Favorit ist diese Version von Stoner Chipmunk Productions – welche zu Beginn nebenbei das coolste Firmenlogo ever präsentieren. Ich werde das weiter beobachten.

10 Kommentare leave one →
  1. 16. Oktober 2009 19:05

    Nun ja, was soll man sagen irgendwie war der Mann ja schon genial, oder nicht? Ziemlich krass, in jeder Hinsicht, aber genial. Auch wenn ich davon keine Ahnung hatte bevor ich gelesen habe, was du geschrieben hast…

  2. Leonie permalink
    16. Oktober 2009 23:41

    Stimmt – krasse Geschichte. Ich mochte auch das Video… sollte öfter mitgeliefert werden, so ein Soundtrack zum Lesen. Danke!

  3. rito permalink
    17. Oktober 2009 06:00

    Sehr geehrter Autor.
    Diese Verherrlichung einer Selbsttötung grenzt an Menschenverachtung. Wir sterben doch sowieso. Ich sehe es als Jedermanns Verantwortung mit dem Geschenk des Lebens klarzukommen, solange wie es halt dauert. Die oben genannten Absichten sind mir weiss Gott nicht fremd, aber woher wollen Sie denn wissen, was im Kopf eines Sterbenden vor sich geht und ob nicht doch im letzten Moment des Daseins die Reue über die eigene Entscheidung einsetzt. Schliesslich gibt uns das Leben ja die Möglichkeiten aktiv gestalten zu können, was nach dem Tode definitiv nicht mehr der Fall ist. Zudem: Selbstmord ist Mord, nichts anderes. Ob ich nun einen anderen oder mich selbst hinrichte macht de facto keinen Unterschied. Der Tod wird schon so schlimm nicht sein und ist mehr ein Problem der Hinterbliebenen als desjenigen der ihn erleidet. Aber die Verantwortung über das Ende können wir nicht übernehmen, egal was danach kommt. Das Leben ist zu wichtig, als so leichtfertig Tipps zum selbstverantworteten Ende zu geben. Ich höre schon die Argumente „Selbstbestimmung“, „Freiheit“ etc. aber welche Handlung soll es denn sein sich aller Handlungsmöglichkeiten zu entziehen. Das schmeckt mir immer etwas nach Eitelkeit und Hybris wenn ich solche Artikel lese. Der Tod ist nicht so wichtig, was zählt ist das Leben !

    • AndreasU permalink*
      17. Oktober 2009 08:46

      Hallo Rito,

      Sie unterliegen einem gründlichen Missverständnis: Weder möchte ich den Text als Verherrlichung, noch als Aufforderung zum Selbstmord verstanden wissen. Es ging mir auch nicht darum, „Tipps zum selbstverantworteten Ende“ zu verteilen. Vielmehr wollte ich – und ich hatte gehofft, das wäre klar zum Ausdruck gekommen – neben allem ironischen Geplänkel lediglich darauf hinweisen, dass ein offener, enttabuisierender Umgang mit dem Thema einen allzu leichtfertigen Selbsttötungs-Impuls im Einzelfall womöglich als ebendies entlarven kann: allzu leichtfertig. Sollten Sie sich durch den Beitrag verletzt fühlen, war dies mit Sicherheit nicht meine Absicht. Auch ich bin im Laufe meines Lebens bereits in verschiedenen Zusammenhängen mit dem Thema Selbstmord konfrontiert worden und mir der Sensibilität desselben wohl bewusst. Insofern lag mir nichts ferner, durch die bloße Information über die Todesumstände eines vor 200 Jahren verstorbenen Dichters eine moralethische Diskussion über die Zulässigkeit von Selbsttötungen vom Zaun zu brechen. Ich lasse Ihnen diesbezüglich gern Ihre Meinung, auch wenn diese zumindest juristisch (Selbsttötung gleich Mord) wohl nicht haltbar ist.

    • Tristan permalink
      19. Oktober 2009 10:29

      Mah, welche heuchlerische, selbstgefällige und selbstgerechte und bigotte Aussage!
      Sie haben den Text überhaupt nicht verstanden..Schlussfolgerung: Mangelnde geistige Kapazität….

  4. Felix K permalink
    17. Oktober 2009 14:38

    Großartiges Thema, gute Herangehensweise, guter Text. Bin gerade mal hier reingestolpert und der Blog ist gleich mal in meinen Favoriten gelandet.

    • AndreasU permalink*
      17. Oktober 2009 15:06

      Danke Felix, das hört man gern. Im Gegenzug wirst Du natürlich sofort zu unserem favorisierten Leser erklärt. So schnell kann’s gehen…

  5. 20. Oktober 2009 14:07

    Ich bitte um Veröffentlichung von Folge 2 der Reihe.

    • AndreasU permalink*
      20. Oktober 2009 15:08

      Werter Michail Alexandrowitsch,
      das setzt mich einigermaßen unter Druck, da schnöde Erwerbsarbeit derzeit meine ganze Aufmerksamkeit erfordert. Doch noch vor Wochenfrist wird Ihrem Wunsch entsprochen.
      MfG, A

  6. 9. Oktober 2015 21:03

    Sehr, sehr amüsiert. Text und Rekommentierung haben mich gut unterhalten.
    Ich bin zwar auch der Meinung, dass man sich im Freitod an seinen Mitmenschen vergeht (an denen, die mich lieben und/oder brauchen), aber ich empfinde hier auch keinen Aufforderungscharakter. Eher suizid- entmotivierende Banalisierung.

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