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Die am einfachsten zu beantwortende Frage der Welt

15. März 2011

Mit der Wahrscheinlichkeit – namentlich der mathematischen – ist es ja so eine Sache: Sie beschreibt in absoluten Zahlen einen Umstand, der in seinen konkreten Auswirkungen relativer und unbestimmter nicht sein könnte. Die Wahrscheinlichkeit etwa, beim Mensch-ärgere-dich-nicht-Spielen die ersehnte Sechs zu würfeln, ist für jedermann nachvollziehbar 1:6. Doch was, wenn ein Spieler dieses Glück bereits, sagen wir, sechsmal hintereinander hatte? Verringert sich dann die Wahrscheinlichkeit, dass sich selbiges auch beim nächsten Mal wiederholt? Nein. Selbst, wenn jemand zufällig sechs Wochen lang ohne Pause Sechsen würfelt, ist und bleibt die Wahrscheinlichkeit, dass die Serie auch beim nächsten Wurf nicht endet bei jedem neuen Versuch exakt 1:6. Würfel haben eben kein Gedächtnis.

Nach der ‚Deutschen Risikostudie’ der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) von 1989 ist für einen hiesigen Druckwasserreaktor der zweiten Generation alle 33.000 Betriebsjahre mit einem schweren Unfall zu rechnen. Für diese zweifelsohne ungeheuer komplizierte Rechnung wurde unter anderem auf Grundlage statistischer Daten die jeweilige Erwartbarkeit von Erdbeben, Terroranschlägen, Flugzeugabstürzen, allgemeinem menschlichen Versagen und anderen, die Reaktorsicherheit bedrohenden Umständen beziffert und so eben jenes scheinbar verschwindend geringe sogenannte Restrisiko ermittelt, auf das sich die Befürworter der kommerziellen Energiegewinnung durch Atomkraft so gern berufen.

Nun gibt es natürlich etliche Gegengutachten, die das von der GRS errechnete Restrisiko als bei weitem zu gering erachten und auf Grundlage derer nicht nur Umweltschutzorganisationen seit Jahren den Ausstieg aus der Atomkraft fordern. Dabei hätte man – statt einen komplizierten, vom Ottonormalstromverbraucher in der Regel kaum nachvollziehbaren Schlagabtausch über garantiert beiderseits anfechtbare Rechenmodelle zu führen – einfach mit einem handelsüblichen Würfel und der GRS-Studie auf einer Pressekonferenz der Atomlobby auflaufen müssen und damit bereits genug Argumente für einen sofortigen Stopp sämtlicher Atomkraftwerke weltweit in der Hand gehabt. Schließlich ist das offizielle Ergebnis der Studie, nach der in etwa „alle 33.000 Betriebsjahre“ mit einem schweren Störfall zu rechnen ist, für jedermann erkennbar Folgendes: Das nämlich rein mathematisch niemand ausschließen kann, dass sich ab morgen eine Woche lang jeweils morgens, mittags und abends ein atomarer GAU ereignet – solange, bis sich sämtliche der derzeit in Deutschland in Betrieb befindlichen Druckwasserreaktoren nach einer Kernschmelze gen Erdmittelpunkt fressen und das jeweilige Umland in die Apokalypse stürzen. In jedem einzelnen, mathematisch wie dargelegt vollkommen unabhängig voneinander zu betrachtenden Fall, hätte sich dann eben ein rechnerisch womöglich äußerst unwahrscheinliches, aber am Ende doch nicht gänzlich auszuschließendes Ereignis verwirklicht. Die GRS-Studie hätte dann genauso Recht behalten wie für den Fall, dass in 25.000 Jahren in Brokdorf nach bis dahin vollkommen störungsfreiem Betrieb erstmals die Waschbeckenbeleuchtung im Damenklo ausfällt. Das Rechenmodell deckt beide Szenarien gleichermaßen überzeugend ab, das ist das Wesen der Wahrscheinlichkeit.

Wenn die Regierung Merkel also nun vor dem Hintergrund der schrecklichen und in ihrem Ausmaß derzeit noch kaum zu überblickenden Ereignisse in Japan ankündigt, „vorübergehend“ sieben Reaktoren abzuschalten und eine sicherheitstechnische Überprüfung sämtlicher deutschen Kernkraftwerke in Aussicht stellt, so ist dies in nicht nur einer Hinsicht Augenwischerei: Zum Einen macht man sich nämlich sicher nicht der üblen Nachrede schuldig, wenn man die Verlautbarung als wahltaktisches Manöver bezeichnet, welches lediglich irgendwie die nun erneut aufbrandende Empörung über die kürzlich beschlossene Laufzeitverlängerung sowie die derzeit herrschende allgemeine Verunsicherung in der Bevölkerung auffangen soll. Zum anderen steht jetzt schon fest, wie das Ganze enden wird: Nach einem mindestens monatelangen Prüfungsverfahren wird die eingesetzte Experten-Kommission schlicht das Ergebnis einer neuen Wahrscheinlichkeitsrechnung präsentieren.

Womöglich wird man angesichts der erschreckenden Häufigkeit zurückliegender Störfälle nunmehr vorsichtshalber auf Formulierungen wie „alle 33.000 Jahre“ verzichten und fortan lieber von „an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ oder ähnlichem sprechen. Je nach Ausgang der Tragödie in Japan und Intensität des öffentlichen Drucks werden vielleicht sogar ein paar Reaktoren für immer abgeschaltet. Trotzdem stehen die Chancen aber immer noch gut, dass nach Ende des Prüfungsprozesses in Deutschland auch weiterhin Atomkraftwerke betrieben werden dürfen – und zwar auf Grundlage einer Wahrscheinlichkeitsrechnung, die exakt so aussagekräftig sein wird wie jene aus dem Jahr 1989.

Dabei ist die Frage, ob man angesichts dieser Faktenlage die Nutzung einer keineswegs unverzichtbaren, sondern eben lediglich profitablen Technologie verantworten kann, die schon mit einem einzigen Störfall nicht nur potenziell tausende Menschenleben kosten, sondern darüber hinaus noch ganze Landstriche auf Jahrzehnte unbewohnbar machen kann – dabei ist diese Frage die am einfachsten zu beantwortende der Welt.

(Und weil’s gerade so schön passt – hier noch einer der wahlweise dümmsten oder zynischsten Beiträge der letzten Jahre auf spiegel-Online. Und der Ausgewogenheit halber ein ziemlich guter zum Thema auf faz.de.)

3 Kommentare leave one →
  1. ausundvorbei permalink
    15. März 2011 21:34

    http://www.campact.de/atom2/sn11/signer

  2. 16. März 2011 15:15

    Ein sehr guter und logischer Kommentar zur Lage. Vielen Dank dafür. Werde ich bei Gelegenheit verbreiten.

  3. 23. März 2011 12:00

    Also, das ist doch totaler Quatsch! Der Verfasser hat wohl keine Ahnung von Würfeln und Atomen. Erstmal: Würfel bestehen auch aus Atom. Alles besteht aus Atom. Atom kann also gar nicht schlecht sein. Wer „Weg mit dem Atom“ ruft, der ist ganz schnell auch selber verschwunden. Das mit Japan ist ja jetzt schlimm, aber wenn dann der Strom weg ist, meckern auch wieder alle. Und jetzt ist das ja passiert, bis wieder was passiert, dauert es also wieder und bis dahin hat man bestimmt schon alles erforscht. Das mit dem Würfel habe ich eben ausprobiert und mehr als sieben Mal hintereinander kommt die sechs nicht. Ich habe das fünf Mal probiert. Und mehr als sieben Mal hintereinander kam die sechs fünf Mal nicht! Also kommt auch soo schnell keine Katastrophe mehr. Darüber sollte der Autor mal nachdenken, statt hier so Panik zu machen wie alle anderen auch.

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